Auf Saumpfaden des Bewusstseins

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„In der Geschichte gibt es nur zwei wirkliche Weltwunder: den Zeitgeist mit seinen fabelhaften Energien und das Genie mit seinen magischen Wirkungen." Egon Friedell

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„Die Erfolge der großen Eroberer und Könige sind nichts im Vergleich zu der Wirkung eines einzigen großen Gedankens." Egon Friedell

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Diese Episode entstand in einer Kollaboration mit Musenzeit. Auch das Foto im Textfeld stammt von Musenzeit.

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Vergeudet ein Mensch sein Jing, verliert er seine drei Schätze, ohne Bedauern, da er nie Kenntnis von ihnen erhielt. Die drei Schätze sind Jing, Qi und Shen. Jede Qualität besitzt greifbare, der kindlichen Anschauung zugängliche und - im Gegensatz dazu - schwerer fassbare, nur auf Saumpfaden des Bewusstseins erreichbare Aspekte. Auf der physischen Ebene vergiftet sich der Entwurzelte so, dass er Schwächungen erlebt, die Diagnosen im Spektrum zwischen Knochenmarks- und Bluterkrankungen sowie der Zellhygiene nach sich ziehen. Wir ordnen sie dem Yin zu. Das Yang Jing ist ein dankbarer Empfänger von materiellen und immateriellen Stärkungen. Von der Nahrung bis zur Liebe gehört alles dazu.  

Exorzistisches Exerzitium

„Permanent Performance."

So lautet das hysterische Gebot der Stunde seit zwanzig Jahren. Überall herrscht Vollalarm. In diesem Klima überleben besonders gut akademisch geboostete Paranoiker auf der Grand Cru-Ebene. Yannik erklärt das hormonell. Er weiß, wie Adrenalin und Testosteron beim Leistungsträger in einer Kultur des Aktionismus zusammenspielen. Im Französischen leitet sich das Wort für Arbeit von einem Folterinstrument ab. Travail kommt von Trepalium.

Jede Firmenchefin predigt ihren leitenden Damen: Wahre High Potentials sind schon länger beim Wu wei angekommen. Je älter die Welt wird, desto mehr neigt sie sich nach Osten, verkündet Werwölfin Valerie eine ihrer von Yannik evaluierten Eingebungen. 

Yannik steht als Valeries persönlicher Trainer zu ihrer Unterstützung im Seminarraum bereit. In seinem Anzug und mit dem filigranen Heatset sieht er aus wie ein Bodyguard der Bossin. Valerie spekuliert auf diesen Effekt. Sie trimmt ihr Personal. Es schmeichelt ihrer Selbstherrlichkeit, als Diktatorin wahrgenommen zu werden. Ginge es nach ihr, wäre unsere Demokratie passé. Vorhin hat Yannik seine Kundin hoch-geflowt, temporär war sie so überflutet, dass sie sich Yannik an den Hals warf. Seine Zurückweisung traf sie wie ein Schlag. Yannik vereitelte einen Ausbruch, indem er seine Schülerin körperlichen Anstrengungen unterwarf, bis der werwölfische, Blutrache erheischende Impuls, die Schmach einer Zurückweisung mörderisch zu ahnden, sich in Wohlgefallen auflöste und Valerie sich wieder so erhaben fühlte, dass sie Yannik verzeihen konnte. Er ist doch nur ein Laufbursche ihrer körperlichen und mehr noch ihrer mentalen Fitness; ein ebenso gut bezahlter wie gut aussehender Knecht.   

Yannik zitiert vor den Angestellten Kurt von Hammerstein-Equords Unterscheidung von Offizieren nach ihrer Eignung. Nach Wikipedia: „Ich unterscheide vier Arten. Es gibt kluge, fleißige, dumme und faule Offiziere.  Wer klug ist und gleichzeitig faul, qualifiziert sich für die höchsten Führungsaufgaben, denn er bringt die geistige Klarheit und die Nervenstärke für schwere Entscheidungen mit. Hüten muss man sich vor dem, der gleichzeitig dumm und fleißig ist."

Yannik fühlt sich als Ratgeber-Dekonstruktivist nicht besonders wohl. Er jongliert mit dem Jargon, den er an anderer Stelle entlarvt. Aber auch er streckt sich nach der Decke. 

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Jamal: Die Stimmung, in der Akio geheimnisvoll erscheint und Sina fast verwundert aufhorcht, weil er in ihr eine Saite zum Klingen gebracht hat, die noch nie von einem Mann berührt wurde, stammt nach meinem Empfinden von dir. Du hast in einer Phantasie deine realen Erfahrungen mit dem Ideal-Setting im Textland verschmolzen, um dich höher hinauf zu schwingen. So erkläre ich mir die narrative Volte. Akio wird Sina aus seiner Zeit in einem Wolken-Dojo berichten, während sie die Flow-to-go Phase hinter sich lässt, sich entpuppt und in dem Nebelland der Ernsthaftigkeit erst einmal ziemlich orientierungslos unterwegs sein wird. Ständig greift sie nach Akios Hand und nicht immer überlässt er ihr seine Hand. Er ist ein Visionär des Qi. Er verfolgt Ziele und tändelt nicht. Sina muss zu einem idealen Resonanzkörper werden. Sonst kann Akio mit ihr keine Kraftbatterie bilden. Das hat sie, glaube ich, schon verstanden. Sie schwingt schon ganz schön und atmet gut. 

Du darfst das nicht nur machen, um mir zu gefallen", sagt Akio. 

Ich weiß, Liebster, aber ich gefalle dir so gern", antwortet Sina.

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Gong-fu Dialektik:

These

"First (we) destroy the opponent's ability to guard his centre." Dr John Fung

Antithese

"My centre is everywhere - all over." Chu Shong Tin, zitiert nach Maksem Manler

Jamal: 'Mein Zentrum ist überall.' Du kannst dich nicht mit mir verbinden, wenn ich es nicht will. Du findest mein Zentrum nicht. Folglich triffst du mich nicht. Ich halte in jeder Lage mein Gleichgewicht. Das alles steckt in 'My centre is everywhere - all over.' Das ist extrem smart (smart force) und reicht sogar über die Person hinaus. Jemand, der in unserer Kunst so weit fortgeschritten ist, kann sein Zentrum in die Gegend verlegen. Und jetzt betrachte noch einmal den ersten Satz, nur um zu realisieren, wie viel weiter man sich entwickeln kann als die meisten Leute es für möglich halten.

Musenzeit: Ja, extrem spannend ist das... wo wäre der Gegner, wenn sein Zentrum 'verschwindet'? Ist da dann noch etwas, das eine Gegnerschaft definiert - und wenn ja, was wäre das dann überhaupt?

Weiter aus der Diskussion

Musenzeit: Du, der Chronist deiner Generation: Schreibende Monomanie als Gottesauftrag und Kohortenphänomen, verstehe ich das so richtig?

Jamal: Nein, das war etwas ganz Bescheidenes, Regionales. Ich war mit meinen Freund:innen nahezu ununterbrochen zusammen. Ich hielt das für normal und für repräsentativ. Ich muss bloß über 'uns' schreiben, dann habe ich meine Generation schon erfasst. Das war natürlich alles falsch, aber es war jedenfalls kein monomanisches und kein monumentales Projekt, sondern eher so etwas wie literarische Kleingärtnerei.

Musenzeit Das kann ich mir gut vorstellen. Das schöne Bild kommt aus einer stärkenden Empfindung. Solchen Phänomen spüre ich gern nach. So vieles ist eine Frage der Perspektive. 'Literarische Kleingärtnerei' - ich habe da sofort das Bild vielfältiger 'Kleinparadiese' vor mir, die gesammelt ein beschwingt atmendes Wortmonument ergeben ... ich habe wieder so wunderbare Momente erlebt, die tief einsinken durften und gleichzeitig in die Welt hinein schwingen wollten. Die Worte kommen immer erst viel später als das Erleben aus diesen Räumen zu mir, ich muss mich dann etwas gedulden.

Jamal: Mir ist das auch beim Schreiben erst wieder eingefallen. Wir haben zusammen gewohnt, Boule gespielt, sind gewandert, im Buga-See geschwommen, haben  Brennnesseln für Läusekillersud gesammelt, Pesto produziert, Nudelsoßen erfunden, sind im Winter gerodelt und haben uns beinah ununterbrochen über Kampfkunst unterhalten. Für mich waren das universelle Erfahrungen. Lange dachte ich nicht, dass irgendwer in seiner Jugend etwas Besseres erleben haben konnte.

Jamal: Das vollzieht sich auf der Linie Bewusstsein - Information - Energie. Die erwachte Wahrnehmung hebt ununterbrochen Schätze. 

Musenzeit: Schöne universelle Erfahrungen - ah, das lässt mich gleich tief atmen und lächeln - ein poetischer, wunderschöner Gedanke! 

Jamal: Die Erfahrungen waren natürlich nicht universell. Ich fände ich es respektlos den Menschen gegenüber, die meinen Lebensweg gekreuzt haben, wenn ich allem das Jugendprogramm voranstellen würde. Das war sehr schön und danach passierten andere sehr schöne Dinge. 

Jamal: Und dann wieder die Verwandlung von Vorstellungskraft in Lebenskraft - und das alles nur als Surfrausch auf der Kielwelle der Dankbarkeit (und der Einsicht in das Wunder der Schöpfung)

Musenzeit: Ich mag das Respektvolle, das du hier ansprichst. Liebesgartenparadiese sind individuell. Da gibt es auch den Trend, die Jugendzeit zu idealisieren. Ich bin gerne in 'meinem' Alter mit all den Erfahrungen und Begegnungen, jede Falte und Narbe eine erlebte Geschichte ... ja, genau so surft es sich dahin im Schöpfungswunder, wie du es beschreibst, so mühelos gleitend ist es dann...

Um an anderer Stelle weiterzumachen

Musenzeit: „Lieber Jamal das hast du so schön gesagt, den Impuls zum Luftholen im Textland... danke. Ich bin wieder zurück aus dem Stadttrubel und lasse den Abend jetzt ruhig ausschwingen. Morgen wird es ein Tag, an dem ich wieder zum Schreiben kommen darf, ich freue mich darauf. Ich bin schon gespannt auf deinen neuen Text, den du heute so schwungvoll geschrieben hast. Für mich ist das eine inspirierende und wohltuende Rückmeldung, wenn dich unsere Kollaboration so schreibbeflügelt, dann bin ich mit der "Musenzeit" am richtigen Platz in deinem Textland, solange du das auch so genießt wie ich. Für mich gehört auch ein erinnerndes, sanft wohliges Nachbeben an bereits Geschriebenes dazu, das sich in der Stille nochmal zeigt."

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Jamal: Dein kleines Sina-Stück nehme ich gleich auf. Gerade atmet Sina mit Akio. Die beiden haben den Lotussitz eingenommen. Akios Atem schlängelt sich wie eine Schlange durch seine Organreviere. Er synchronisiert sich mit Sina, plötzlich gelingt ihr eine neue Atemtechnik. Sie fühlt sich so aufgeräumt und erfrischt; sie ist von der konzentrierten Zweisamkeit so angetan, dass sie die Übung unterbricht und Akio umarmt. Akio steigt langsam in sich selbst auf - mit einer internalen Delfinwelle. Die Schwingungen sind unendlich angenehm. 

Musenzeit: Die innere Delfinwelle... das ist Sinas Liebesgeschenk an Akio, die durch ihre Umarmung zu ihm fließt. Wie Akio ihr durch seine fließenden Atembewegungen zu mentaler Klarheit und erdigen Lustwallungen führt, so ermöglicht Sina mit ihrem versinnlichten Körperwesen Akio den Zugang zum mühelosen, wohltuenden Bewegen von Moment zu Moment. Ihre Ströme füllen sich im Miteinander voll auf und treten über die Ufer...

Sinas Traum - Von Musenzeit

Ich war auf einem großen Platz inmitten der Berge. Um mich herum Wanderer und Ausflügler. Einige machten sich bereit für eine Tour mit der passenden Kleidung, auch ich war am ausprobieren, zog die Regenjacke an, dann aber wieder aus und packte sie stattdessen ein. Es ist strahlender Sonnenschein, angenehme Temperaturen wie im späten Frühjahr. Am Himmel fliegt ein Raumschiff vorbei, große Aufregung, alle schauen erstaunt nach oben. Natürlich fotografieren wir es alle. Ich wundere mich, dass es so gut sichtbar ist, es fliegt von links nach rechts, dann ist es aus unserem Blickfeld in einer Wolke verschwunden. Ich habe die Wandergruppe währenddessen aus den Augen verloren und entscheide mich daher, mich noch ein wenig im Gästehaus umzusehen, das aus dunklem Holz mit großzügigen Fenstern gezimmert wurde (also ein wenig wie die Bungalows, in denen wir gerade wohnen) Es gefällt mir, die Atmosphäre ist warm und einladend. Auf den umgebenden Terrassen ist alles voller Blumen, blühende Büsche und Bäume rahmen das gesamte Haus. Ich betrachte die Blüten, sie sehen exotisch aus, ich kenne ihre Namen nicht. Sie blühen in zart leuchtenden Gelb- und Rosatönen, die Zweige sind übervoll und ich komme mir vor wie im Paradies an diesem Ort. 


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