~ Ben ~
Immer wieder sah ich auf die Uhr, während ich den Tisch deckte. Gerade noch rechtzeitig hatte ich es nach dem Dienst nach Hause geschafft, um die Wohnung etwas aufzuräumen und das Gästezimmer für Zoe und die Zwillinge herzurichten. Lange hatte dort niemand mehr geschlafen. Überhaupt hatte ich nur selten Gäste. In der letzten Zeit konzentrierte ich mich voll und ganz auf die Arbeit, machte freiwillig Überstunden und übernahm Dienste von Kollegen. Natürlich war das sehr anstrengend, aber ich brauchte diese Ablenkung einfach so sehr. Wenn ich im OP stand oder mit Kollegen über die neuesten Erkenntnisse meiner Forschungen debattierte, war alles andere ausgeblendet. Selbstverständlich versuchten Elias und Julia immer wieder mich dazu zu animieren, auch mal etwas mit ihnen zu unternehmen oder luden mich zu einem Filmabend ein, jedoch erfand ich dann regelmäßig irgendwelche Ausreden. Ich wusste genau, dass sonst wieder diese Fragen kommen würden. 'Ben, was ist los mit dir?', 'Geht's dir gut?', 'Wann hast du das letzte Mal mit Leyla gesprochen?'. Ich machte das lieber mit mir selbst aus. Oder... verdrängte es schlichtweg.
Tatsächlich war Elias der Einzige, dem ich ansatzweise erzählt hatte, was in mir vorging.
Ich stellte die beiden Hochstühle für die Zwillinge bereit und überblickte dann den Tisch. Fehlte nur noch das Essen, das ich vor zehn Minuten bei "Giovanni" bestellt hatte. Familienpizza. Ich lachte humorlos auf. Tolle Familie, wirklich!
Zoe war seit fast einem Jahr von Andy getrennt und jetzt alleinerziehende Mama von drei kleinen Kindern. Sie arbeitete ein paar Stunden die Woche in einer mittelmäßigen Galerie in London und versuchte nebenbei ihr Studium an einer Fernuniversität voranzubringen. Mit mehr oder weniger großen Erfolg. Zumindest war das mein letzter Stand. Wer weiß, was in den letzten Wochen alles passiert war. Auch zu ihr hatte ich nämlich nicht mehr so regelmäßig Kontakt wie früher. Leider.
Hin und wieder schickte sie mir noch Bilder von Raya, schrieb mir sonst aber nur noch vereinzelte Nachrichten. Ich muss jedoch zugeben, dass ich ebenso stiller ihr gegenüber geworden war.
Umso überraschter war ich dann gewesen, als sie vor zwei Wochen gefragt hatte, ob sie und die Kinder hier übernachten durften, da für Lilly eine Untersuchung am JTK anstand. Selbstverständlich durften sie! Ich hatte Zoe versprochen, dass sie hier - egal was zwischen ihrer Mutter und mir war - immer willkommen war. Ja, was war eigentlich zwischen Leyla und mir?
Offiziell waren wir nicht getrennt. Zumindest hatte keiner von uns je ausgesprochen, dass er die Beziehung beenden wolle. Wir hatten hingegen irgendwann einfach gar nicht mehr miteinander gesprochen. Nach meinem letzten Besuch in London im Frühsommer, hatte Leyla mir einen langen Text geschrieben, in dem sie vieles in Frage stellte. Ihr war aufgefallen, dass sich unser Umgang miteinander verändert hatte. Dass wir uns verändert hatten. Wir wussten kaum noch, was im anderen vorging, interessierten uns nicht mehr für Gedanken und Gefühle, sprachen nur noch das Nötigste. Konnten wir früher einfach nebeneinander auf der Couch sitzen und schweigen, fühlte sich nun die Stille zwischen uns plötzlich nicht mehr gut an. Sie lag wie eine unsichtbare, unüberwindbare Mauer zwischen uns.
Seufzend ließ ich mich auf den Sessel sinken und nahm einen Schluck von meiner vorhin geöffneten Cola, während ich auf meinen Besuch wartete. Wann hatte ich heute das letzte Mal etwas getrunken? Wahrscheinlich war es der lauwarme Kaffee am Morgen kurz nach der Visite gewesen...