Käfer

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Ein weites Feld erstreckte sich über den Horizont. Nichts war hier eckig, alles sah organisch aus. Selbst die alte Abhörstation, die aus längst vergangenen Zeiten inmitten der öden Natur stand. Ihre Kuppel setzte sich aus vielen kleinen Sechsecken zusammen, von denen mindestens zwei Drittel durch Jugendliche -manche nennen sie Randalierer- individualisiert wurden. Die blauen Kornblumen gaben dem Ort ein ganz besonderes Ambiente. "Ist es nicht perfekt? Ist es nicht einfach nur perfekt?", quietschte Silja. Sie hatte den Ort ausgesucht. Grete hatte geahnt, dass es speziell sein würde, aber das hatte sie nicht kommen sehen. Ein abgezäuntes, verlassenes Gelände war nicht gerade der gewöhnliche Ort für ein Treffen. "Es ist wundervoll." Sie bekräftigte die Aussage mit einem Lächeln. Auch Silja wurde nun etwas ruhiger und lächelte. "Komm mit!", zog sie Grete am Arm. Sie hatte diesen Ort nicht umsonst ausgewählt, er lag abseits der großen Stadt und hatte einen mysteriösen Reiz. Vor der Tür des alten Gebäudes blieb Grete stehen. "Ich will da nicht rein." "Ach komm, ich bin extra mit dir hier hingefahren und es ist auch nur ein ganz kleines bisschen gefährlich. Glaub mir, ich war da schon oft genug!" "Wenn du schon oft genug da warst, brauchen wir ja nicht nochmal zu gehen." "Denk auch mal an dich! Du weißt nicht, was du verpasst." Silja hatte Spaß an der Diskussion und hätte alles gegeben, um ihre Freundin zu überzeugen. Das war aber gar nicht nötig, denn Grete gab schon von selbst nach. Sie gingen durch die Tür und betraten somit einen großen Raum. In den Ecken lag Müll, Pflanzen breiteten sich aus, der Beton bröckelte an einer Stelle von der Decke. Weiter hinten führte eine Stahltreppe nach oben. Missmutig ließ sich Grete führen. Sie fühlte sich hier nicht wohl. Alles war so dreckig und verboten. Oben angekommen staunte sie nicht schlecht. Es war nicht perfekt, aber es war beeindruckend. Sie standen direkt unter der Kuppel. Durch Löcher in den Sechsecken fiel Licht. "Na, gefällt es dir?", fragte Silja. "Ja, es ist... wunderhübsch." "So wie du." "Und so wie du." Sie sahen sich in die Augen und einige Sekunden später berührten sich ihre Lippen. Die Verabredung wandte sich nun doch zum Guten. Silja zückte einen Edding. Sie lief an den Rand der Kuppel und rief Grete zu: "Hilf mir mal ein leeres Sechseck zu finden!" Ein unbeschriebenes, intaktes Sechseck fanden sie nicht, aber dafür eines, auf dem viele Leute vor ihnen Hasssprüche aufgezeichnet hatten. Ein super Kontrast, fand Silja und schrieb ihre Anfangsbuchstaben auf. Ihre Freundin durfte das Herz drumherum malen. Grete konnte nämlich besser zeichnen als sie. "Hoffen wir, dass wir solange zusammenbleiben, wie dieses Gebäude schon steht. Oder am besten noch länger."

Eigentlich war doch alles toll, wieso machte sich Grete dann solche Gedanken? Sie liebte Silja von ganzem Herzen, aber sie sehnte sich nach ein bisschen Normalität. Silja musste außergewöhnlich sein, in allem, was sie tat. Sie machte das nicht mit Absicht, sie war einfach so, das wusste Grete. Aber manchmal fühlte sie selbst sich, als könnte sie nicht mithalten, ihrer Freundin nicht das geben, was diese ihr gab. Sie kam nicht auf außergewöhnliche Ideen. Es wurde anstrengend, all die neuen Besonderheiten wertzuschätzen. Das musste Grete unbedingt sagen, doch sie konnte nicht. Ihre Beziehung war mehr als eine Beziehung. Sie waren nicht nur zusammen, sondern auch beste Freunde. Und diese Freundschaft war einmalig. Grete wollte sie auf keinen Fall verletzen, verlieren. Andererseits war Silja auch ein sehr verständnisvoller Mensch. Sie würde es vielleicht verstehen. Dann bräuchte sie sich nicht mehr all die Mühen machen. Sie wären ganz normal, wie man sich ein junges Paar vorstellt. Ja, das würde passieren. Auch wenn Grete große Angst vor dem bevorstehenden Gespräch hatte, rief sie ihre Freundin an und verabredete sich "zum reden".

"Du möchtest also, dass wir normaler werden? Wie sollen wir denn normal sein?", hakte Silja nach. "Einfach mehr wie Paare halt sind..." Bisher hatte Silja es gemocht, eine besondere Beziehung zu führen. Und sie hatte auch gedacht, dass Grete es genoss, zumindest in Teilen. Natürlich gab es Momente, in denen die Kontraste zu groß wurden, in denen die beiden aneckten, aber das passierte jedem. "Aber wie? Was kann ich tun, um normaler zu sein? Ich bin halt so." Vor dieser Frage hatte Grete Angst gehabt. Was sollte sie konkret vorschlagen? Nachher würde Silja diesen einen Vorschlag umsetzen und es dabei belassen. Keiner würde glücklich sein. "Man verabredet sich nicht im Sperrgebiet, sondern im Restaurant. Man veranstaltet keine Teeparty sondern geht in den Club. Schau einfach mal ein bisschen fern. Dann siehst du, was normal ist." Silja konnte ihren Ohren nicht trauen. War das gerade eine Anfeindung.? Sie fühlte sich verletzt und wütend. Aber sie würde es nicht rauslassen, noch nicht. Ersteinmal würde sie sich Mühe geben und versuchen, normal zu sein.

Silja kaufte einen Fernseher. Einen Röhrenfernseher aus dem Second-Hand-Laden. Das musste normal genug sein. Dann verbrachte für einen Monat sämtliche Nachmittage vor dem Bildschirm, ein kleines Notizbuch in der Hand , um sich Notizen zu machen. Sie sah, dass es ein langer Weg zur Normalität werden würde und sie fragte sich, ob normale Menschen das auch machten. Im Prinzip musste sie sich selbst aufgeben. Sie war sich nicht sicher, ob es das wert war. Doch war es. Es war ein interessantes Experiment und würde ihre Beziehung umkehren.

Wir Menschen sind wie die Käfer. Wir scheinen alle ein Ziel zu haben, laufen aber in Wahrheit ziellos durch die Welt. Erst wenn wir fast angekomen sind, sehen wir die Ausmaße unseres Ziels und dass es eines gibt. Aber ist es ein altes Stück Käse oder eine saftige Sternfrucht? Es steht in den Sternen.

Nach einem Monat und fünf Tagen war Silja ein anderer Mensch. Sie hatte aufgehört, Sternfrüchte zu essen und nahm stattdessen Äpfel mit zum Frühstück. Sie hatte ihre langen, blonden Rastalocken raspelkurz geschnitten. Sie hatte aufgehört, nach dem Unterricht mit den Lehrern zu quatschen. Sie war eine Mischung aus Spießer und Klischee-Kampflesbe. Ob das normal war, wusste sie nicht, aber Grete stellte es zufrieden.

Nach einer durchtanzten Nacht im Club übernachtete Grete bei ihrem Schatz. "Mein Zimmer ist noch nicht normal, tut mir leid. ", sagte Silja mit einem kaum merkbaren sarkastischen Unterton, der nicht dazu bestimmt war, gehört zu werden. Das Zimmer hatte sie schon, seit sie ein Kind gewesen war. Aber es war außergewöhnlich, deshalb hatte sie es nie renoviert. Die Wände waren blau, der Boden mit sandfarbenem Teppich ausgelegt. Statt einer Tür hing im Rahmen ein Vorhang in Algenoptik. Die Decke war mit einem Wellenmuster bemalt. In einer Ecke stand der Röhrenfernseher. Grete war glücklich. Sie hatte, was sie wollte. "Ich hab dich so lieb!", quietschte sie. Sie bemerkte nicht, dass sie ihre Silja verloren hatte. "Lass uns einen Ausflug machen." Sie gingen essen, in einem kleinen Cafe, in dem sie noch oft sitzen würden.

Kurz nach ihrem 18. Geburtstag machten die beiden Urlaub. Sie fuhren nach Borkum, eine kleine Insel in Norddeutschland, die manche als Spießer-Brennpunkt ansehen, viele aber auch für ihre Strände, die Leuchttürme und die Strandpromenade schätzten. Silja gefielen die Holzskulpturen , die über die Insel verteilt aufgestellt worden waren. "Es gefällt mir hier. Wie fändest du es, wenn wir zusammen hier herziehen würden?", fragte Silja verträumt. "Wäre bestimmt ganz schnuckelig", erwiderte Grete. Ja, das wäre bestimmt eine wundervolle Zukunft. Silja könnte ein eigenes Cafe an der Promenade eröffnen und Grete würde sich als Künstlerin einen Namen machen. Silja malte sich die Zukunft anders aus: Vielleicht könnte sie auf der Promenade eine kleine Töpferei eröffnen und mit Grete in einem Haus am Strand leben. Für diese Zukunft fehlte neben dem Geld noch ein kleiner Schritt. Und den würde Grete jetzt gehen. In ihrer Jackentasche suchte sie unauffällig nach einem Ring. Einen identischen zweiten hatte sie im Rucksack. Sie hatte sie sorgsam ausgesucht. Es waren handgefertigte Einzelstücke. Sie waren silbern mit kleinen eingelassenen Edelsteinen in der Farbe einer Kornblume. "Silja, ich möchte gerne meine Zukunft mit dir verbringen. Ich liebe dich von ganzem Herzen", fing Grete an. "Ich dich auch. Und deshalb möchte ich dich etwas fragen, was schon lange fällig war. " "Ich dich auch." Gleichzeitig sagten sie :"Willst du mich heiraten?" Verdutzt sahen sie sich in die Augen. Silja blickte auf den Ring mit dem Stein. Er war wunderschön, aber sie hätte das niemals von Grete erwartet. Grete sah auf die Schachtel in Siljas Hand und den traditionellen Brilliantring darin. Das hatte sie sich im Herzen immer gewünscht, doch nun war sie fast ein bisschen enttäuscht. Siljas Heiratsantrag war so normal...

"Ist etwas, du guckst so seltsam?", fragte Silja, die ein Gespür für Menschen hatte. "Silja, ich liebe dich, aber weißt du, es muss nicht immer alles so normal sein.", seufzte Grete und erwartete eine Ansprache. Silja lachte und fiel ihrer Verlobten in die Arme. "Endlich hast du es kapiert! Ich hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben!" "Heißt das, du wirst jetzt wieder normal? Also wie früher? Also nicht normal?" "Vielleicht, wenn du bleibst, wie du bist! " Sie steckten sich die Ringe an, so dass jeder zwei Verlobungsringe trug. Es war eine Sternfrucht.

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